Uwe Friesel

  Literarische Spaziergänge
auf dem Ohlsdorfer Friedhof

Meine Hamburger Kollegin Anna Bardi (†) war nicht nur gleichermaßen begabt fürs Schreiben und bildnerische Gestalten, sie hatte auch sehr viel Mut als Kleinverlegerin. Als letztes hat sie 2009 in ihrem klitzekleinen Jeudi Verlag einen Band herausgebracht, an dem ich als Autor und Redakteur sehr beteiligt bin. Und zumindest ebenso sehr ist es Birgitta Sjöblom, die das Layout besorgte und im übrigen auch diese Homepage gestaltet hat.

 

 

 

 

Über dieses Buch
Drei Spaziergänge von Hamburger Autoren zu den Gräbern der Schriftsteller in Ohlsdorf: Mal waren es authentische Erinnerungen, mal die besondere Nähe zu den toten Kollegen, die zu den hier versammelten Erinnerungstexten führten.

Wegbeschreibungen und Kartenausschnitte des Friedhofs, Zeichnungen und Fotos der Gräber ergänzen die Texte.

Die Textautoren
Rolf Appel, Anna Bardi, Martina Bick, Christian O. Böttger,
Emina C. Kamber, Wolf-Ulrich Cropp, Reimer Eilers, Erna R. Fanger, Rosemarie Fiedler-Winter, Gerlind Fischer-Diehl, Uwe Friesel, Siegrun Kiesewetter, Gisela Knappe, Gino Leineweber, Udo Röbel, Sybil Schlepegrell, Andrea Schomburg, Arno Surminski, Antje Thietz-Bartram, Axel Thormählen und Ginny G. von Bülow, sowie als Gast Prof. Puca, Sydney.

Literarische Spaziergänge auf dem Ohlsdorfer Friedhof
© für die einzelnen Texte bei den Autoren

Das Buch ist zur Zeit vergriffen, soll aber neu aufgelegt werden.

 

 

 

 

Aus diesem schön gemachten Buch hier ein Text-Beispiel:

Uwe Friesel

Nach-Rede für Heinz Erhardt

Mit wachsender Verwunderung und mich selbst überraschender Nachsicht erinnere ich mich an meine Schulzeit. Nie wieder Krieg! Die Pädagogen, die überlebt hatten, wollten es besser machen. Sie wollten Klassik und Humanismus von allen Beschädigungen heilen, endlich wieder zum Wahren und Guten vordringen. Doch was wir Schüler damals lieber lasen, hieß „Kahlschlagliteratur“. „Man hat noch nicht begriffen, was es bedeutete, im Jahre 1945 auch nur eine halbe Seite deutscher Prosa zu schreiben“, notierte Heinrich Böll.

In diese Schnörkellosigkeit, die aus den Trümmern der deutschen Sprache zu retten suchte, was zu retten war, paßte kein Pathos. Und deshalb erschienen uns Schillers Fest gemauert in der Erden und Goethes Bedecke Deinen Himmel, Zeus wie Botschaften von einem fremden Stern, egal, wie unsere Deutschlehrer sich abmühten, die Lehrpläne zu erfüllen.

Zu meinem Glück trat just in den miefigen Fünfzigern, als das Alte töter als tot und das Neue noch nicht zu erkennen war, ein tollpatschiger Mann in einem zu engen Anzug von der Stange auf die Bühne: Heinz Ehrhardt, der scheinbar immer alles in den falschen Hals bekam. „Was bin ich wieder für ein Schelm!“, begann er seine Auftritte, als wollte er sich für die Narrenfreiheit entschuldigen, die er sich herausnahm. Statt der Clowns-nase trug er eine auffällig dicke Brille, die entweder Fensterglas oder gar kein Glas enthielt, damit sich nicht das Scheinwerferlicht darin spiegelte. Bei jeder Vorstellung hatte er Lampenfiber und nahm zur Beruhigung häufig mal einen zur Brust – einen doppelten Doornkaat oder Dodo, wie er das nannte.

In seinen Filmrollen sehen manche Kritiker nur den Klamauk. Ich sehe darin ein ziemlich genaues Abbild des Kleinbürgers aus der Zeit des Wirtschaftswunders, der sich nicht recht zurechtfindet in der braven neuen Welt des Neckermann-Tourismus. Aber noch die blödsinnigste Blödelei von Erhardt war ja nie dumm: dazu wer er zu intelligent. Diese besondere Intelligenz erwies sich an seiner Fähigkeit, Sprache auf sich selbst
zurückzuführen und dabei verblüffend zu entlarven. Ein sprechendes Beispiel dafür bietet das kurze Gedicht

Der Förster

Mitten im Wald
stand der Förster und schalt:
denn er fand auf seiner Suche
eine ungeeichte Buche,
und im selben Waldbereiche
eine ungebuchte Eiche.

Wie man sieht, herrscht hier im deutschen Wald, der uns seit der Romantik heilig ist, eine Unordnung, die ein deutscher Förster schlechterdings nicht durchgehen lassen kann, weshalb er ins Schimpfen gerät:

Mitten im Wald
stand der Förster und schalt.

„Schalt“ von „Schelte“, nicht etwa von „schallen“: ein genialer, unvermuteter, ja eigentlich unerlaubter Reim, wie so viele aus Erhardt’scher Feder. Die Leute verstanden solch naiv daherkommenden Wortwitz, der es in Wahrheit faustdick hinter den Ohren hat, sofort. So treffsicher hat er ihnen damit aus der Seele gesprochen, dass die Stadt Göttingen ihm ein Denkmal gewidmet und Hamburg-Wellingsbüttel, wo er wohnte, jüngst auch einen Park nach ihm benannt hat.

Ja, sogar als Dichter wird er nun entdeckt. Nicht, dass man zu seinen Lebzeiten die genialen Sprachspielereien etwa nicht wahrgenommen hätte:
er füllte ja ganze Säle damit und mehrere Bücher. Nein, was man plötzlich wahrnimmt, ist die für viele erstaunliche, für mich aber seit Schülertagen unumstößliche Gewissheit, dass Heinz Erhardts Verse aus derselben hintergründigen Substanz sind wie die von Busch und Morgenstern und
Ringelnatz. Das einfühlsame Nachschlagewerk „50 Klassiker Lyrik“ aus dem Gerstenberg-Verlag zählt ihn neben Ingeborg Bachmann, Erich Fried und Peter Rühmkorf zu den bedeutendsten Dichtern der Jetztzeit.

Tatsächlich? Dieser dickliche Erhardt mit „Noch’n Gedicht“: tatsächlich ein deutscher Dichter?

Man lacht unbändig ob seiner Sprachakrobatik. Doch das Lachen bleibt einem manchmal im Halse stecken. Denn bei genauem Hinsehen haben seine Texte öfter mal mit dem Tod zu tun, genauer, mit der Banalität des Sterbens, dem während des Kriegs, den er als Klavierspieler im Marineorchester überlebte, jegliche Erhabenheit abhanden gekommen war. Meist ist es kleines Getier,
dem er seine Schüttel-Reime widmet – Würmer, Maden, gelegentlich auch ein
Lama. Das Lama. Eine tierische Tragik entfaltet sich in diesem Gedicht, wie sie
nur ein Magier der Sprache wahrnehmen und gestalten konnte. Mit diesem Griff ins Erhardt’sche
Bestiarium verneige ich mich vor einem sterblichen Mentor, der bei Unsterblichkeit just in diesem Jahr einhundert Jahre alt geworden wäre:

Das Lama

In dem Land des weisen Brahma
lebte jahrelang ein Lama,
dem es niemals wollte glucken,
weit im Bogen auszuspucken.

Schrecklich litt es seelisch wegen
diesem seinem Unvermögen;
und die Tränen war’n ihm nah,
wenn es andre spucken sah.

Heimlich übte es im Sitzen
oder Stehn, den Mund zu spitzen,
um dann zielgerecht durch dessen
Spalt den Strahl hinauszupressen;
doch selbst in bequemster Lage
förderte es nichts zutage.

Und – so endet dieses Drama –
schließlich mußte unser Lama
vor den Thron des Brahma traben,
ohne je gespuckt zu haben.

 

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